
Abschnitt 3: Thematischer Ansatz: der Forschungsstand in der Schweiz
Thema 4: Die Forschung zu Konzeption und Entwicklung von CGU-Produkten
Hier geht es um das, was wir in unserem ersten Abschnitt als "Entwicklungsforschung" bezeichnet haben. Diese Arbeiten werden im allgemeinen in Informatiklabors durchgeführt und können verschiedene Ziele verfolgen: Anwendung neuer Computertechnologien, Unterstützung der Konzeption von Umgebungen, Anpassung von für die Forschung entworfenen Produkten usw. Diese Ziele hängen im wesentlichen von den Bedingungen ab, die den Teams zu Beginn gestellt werden. Zu den repräsentativsten Gruppen in der Schweiz zählen: Das LEAO der EPFL, INFORGE geleitet von S. Munari, das Team von Prof. Pasquier-Boltuck in Freiburg, das Labor von Prof. Stucki in Zürich, die Gruppe von Prof. Levrat und B. Ibrahim in Genf, das Team von Prof. Nicoud in Lausanne, das Team von Prof. Lusti in Basel. Wir sind uns bewusst, dass diese Aufzählung nicht erschöpfend ist; zahlreiche Teams sind erst seit kurzem auf diesem Entwicklungssektor tätig geworden (insbesondere bei Multimedia), aber wir sind davon ausgegangen, dass die vorgelegte Liste in diesem Stadium der Debatte ausreicht, um die Dimensionen aufzuzeigen.
- Der Zweck dieser Entwicklungsforschungen kann einen praktischen Ausgangspunkt haben wie beim LEAO der EPFL. In diesem Team ist die Entwicklung von Software oft die Antwort auf einen durch die Lehrer geäusserten Bedarf. Die vom LEAO angebotenen Lösungen integrieren auf verschiedenen Stufen technologische Neuerungen, die auf andere Situationen übertragbar sind als jene, die Gegenstand der ursprünglichen Anfrage waren. So entwickelt das Team von E. Forte z.B. Umgebungen mit pädagogischer Zielsetzung rund um die Idee "Hypertext zur Erklärung von Begriffen" für die Präsentation von Dokumenten. Für diesen Typ von Entwicklung gibt es a priori keine grundlegende Fragestellung. Indes ist festzuhalten, dass der Bezug zu Modellen der Kognitionspsychologie oder zu Unterrichtsmodellen nicht fehlt. So stützen sich die Forscher des LEAO z.B. auf eine ziemlich präzise Analyse der Prozesse des Textverständnisses. Sie versichern auch, dass sie die jüngsten Arbeiten über Motivation und Aufmerksamkeit berücksichtigt haben.
* Forte, E., Herzog, J.-M. & Wentland, M. (1993): Identification de concepts et parcours orienté dans un hypertexte pédagogique. Comptes-rendus Journées sur les Environnements Interactifs d'Apprentissage par Ordinateur (EIAO) de Cachan, février 1993, Eyrolles, Paris, S.169-180.
- Das INFORGE-Institut (Informatique de Gestion) der Ecole des Hautes Etudes Commerciales (HEC) der Universität Lausanne wird von Prof. Silvio Munari geleitet. Das Institut hat mit dem LEAO und der Ecole des HEC zusammengearbeitet, um einen mit der G2-Sprache entwickelten Buchhaltungsprototypen zu schaffen, der Buchhaltungsübungen durchführen soll. Das hierauf folgende Projekt HIPOCAMPE[35] ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem LEAO (Laboratoire d'Enseignement Assisté par Ordinateur[36], Prof. de Coulon), des LITH (Laboratoire d'Informatique Théorique, Prof. Coray), des INFORGE (M. Wentland) und der Universität Freiburg (R. Ingold). Es handelt sich um eine integrierte Simulationsumgebung und einen pädagogischen Hypertext mit Expertenmodul, der automatisch und auf Anfrage einen Parcours im pädagogischen Hypertext erzeugt. Die in HIPOCAMPE entwickelten Konzepte, nämlich die Kombination des Lernens durch Entdecken mit einer theoretischen Hilfe in Form eines Hypertextes, wurden in ARIANE erneut verwendet. Letztere ist eine integrierte und geteilte pädagogische Umgebung, die Lotus Notes benutzt, um die Kommunikation zu steuern, und deren Ziel es ist, den Computer zum Zweck eines angepassten Fernunterrichts in den Studienablauf zu integrieren. Die durch Prof. Apothéloz von der Ecole des HEC mittels Autorensystem hergestellten Unterrichtsprogramme werden in ARIANE integriert werden. Eines der Hauptcharakteristika der Forschungen des Instituts liegt in seinem "kognitivistischen" Zugang zur Konzeption der Umgebungen; dies gilt insbesondere für die Arbeiten von Prof. Bonzon und seinem Team (A. Zucchinetti und Lianjin Huang).
* Wentland, M.K., Forte, E.N. (1993): Intelligent Hyperhelp in a Scientific Simulation: Overview of the HIPOCAMPE Research Project. Proceedings of CAEE'93, Int. Conf. on Computer Aided Engineering Education, Politechnica University Bucharest, September 1993, S. 33-40.
* Wentland M.K., Probst, A.R., de Coulon, F. & Forte, E.N. (1995): ARIANE: concept d'un environnement pédagogique partagé pour les Hautes Ecoles lausannoises. Comptes-rendus de la conférence internationale "Accés à la formation à distance, clés pour un développement durable", Genéve, Octobre 1994. (erscheint 1995)
- Ausgangspunkt der Entwicklungsforschung kann auch ein ausschliesslich technologischer Gedanke sein wie am Institut für Informatik in Freiburg (Team von Prof. Pasquier-Boltuck). Prof. Pasquier-Boltuck begann seine Forschungen auf dem Gebiet des Softwareengineerings, indem er ein Programm zur Zuverlässigkeitsanalyse entwickelte. Sein Hauptgedanke war, ein einfaches und anwenderfreundliches Produkt zu schaffen. Gemeinsam mit J. Savoy, der damals an Textdatenbanken für Bibliotheken arbeitete, hatte er die Idee, ein Electronic Book zu schaffen, das dann (vier Jahre vor dem Erscheinen von Hypercard) zu einem der ersten Hypertext-Prototypen wurde. Nach einem Aufenthalt in den USA kam er in die Schweiz zurück und entwickelte WEB's, eine elektronische Unterrichtsgrundlage für die Lehre der angewandten Mathematik. Von der Richtigkeit seines Ansatzes überzeugt, möchte er jetzt mit einem Team aus Psychologen oder Pädagogen zusammenarbeiten, um die Wirksamkeit und die Leistung seines Systems zu ermitteln.
* Pasquier, J. & Monnard, J. (1995): Livres Electroniques, de l'utopie à la réalisation. Presses Polytechniques et Universitaires Romandes.
- Das Team von Prof. Stucki vom Institut für Informatik in Zürich hat sich auf die bahnbrechenden Techniken der Bildverarbeitung und die Entwicklung von kostengünstigen Multimedia-CD-ROMs spezialisiert. Die Forscher dieses Teams haben originelle Techniken zur Bildkomprimierung, Schrifterkennung und Gesichtserkennung ausgearbeitet. Prof. Stucki betrachtet die Bildung als ein vollkommen angemessenes und vielversprechendes Gebiet für die Technologien, die er und seine Mitarbeiter entwickeln, aber sie unternehmen auf diesem Gebiet keine besonderen Recherchen.
- Bertrand Ibrahim hat in Genf eine durch Online-Hilfen unterstützte Umgebung für die Herstellung von Unterrichtsprogrammen geschaffen (Projekt IDEAL). Diese Umgebung weist die Besonderheit auf, eine Methode für die Aktualisierung existierender Programme zu bieten. Seit nunmehr zwei Jahren entwickelt B. Ibrahim pädagogische Anwendungen im World Wide Web (WWW). Dort bietet er einen per Internet weltweit zugänglichen interaktiven Programmierkurs an. Das Team hat auch zahlreiche Instrumente für diese Umgebung entwickelt (siehe Fallstudie).
* Ibrahim, B. (1995): Advanced Educational Uses of the World-Wide Web. Special issue of Computer Networks and ISDN Systems, Vol. 27, No. 6, S. 871-877.
- SMACKY ist ein Schweizer Mikrocomputer, den die Firma EPSITEC-System SA 1978 hergestellt hat und der in Zusammenarbeit mit dem Laboratoire de Micro-informatique (LAMI) der Ecole Ploytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) (Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne) durch das Team von Prof. J.D. Nicoud entwickelt wurde. Die Linie "Smacky" für individuelle Computer war seit 1974 in Zusammenarbeit mit "Digital Equipment", dann mit Schweizer Unternehmen entwickelt worden. Es gibt eine grosse Zahl von speziell für SMACKY entworfenen Unterrichtsprogrammen. Man findet darunter "Drillprogramme" (insbesondere für das Einmaleins), Simulationsprogramme (Simulation des Beute-Raubtier-Verhaltens), Autorensprachen, Editoren und ein Kommunikationsprogramm.
- Das Team von Prof. Lusti in Basel arbeitet an der Anwendung von Techniken der künstlichen Intelligenz (intelligente Tutorprogramme, Expertensysteme). Es entwickelt eher Prototypen als marktfähige Umgebungen. Eines seiner Projekte ist die Entwicklung von Modulen zur Kommunikation zwischen weitverbreiteten Anwendungen (wie z.B. den durch Windows verbreiteten Anwendungen) und KI-Modulen, die Erklärungen erzeugen können. Das Team verfügt nicht über die Mittel, wirkliche Beurteilungen durchzuführen, möchte aber in diesem Punkt mit Psychologen oder Pädagogen zusammenarbeiten. Prof. Lusti hat uns gegenüber eingeräumt, dass seine Stellung in einer Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ihm ziemlich strenge Publikationszwänge auferlegt, und dass seine Kollegen Arbeiten zu den Kognitionswissenschaften nicht als seriöse Forschungsthemen ansehen.
* Lusti, M. (1992): Intelligente tutorielle Systeme. Eine Einführung in wissenbasierte Lernsysteme. Handbuch der Informatik, 15(4), München: Oldenbourg-Verlag.
- Aufgrund des MEMOLAB-Projektes (TECFA, Universität Genf) haben P. Dillenbourg und D. Schneider unter Common-LISP eine Toolbox mit dem Namen ETOILE entwickelt. Dieses Instrumentarium ermöglicht durch die Neuverwendung von Funktionen, die vom Unterrichtsfach unabhängig sind, das Erzeugen neuer Anwendungen nach dem gleichen Modell wie MEMOLAB (stoffunabhängige Tutorprogramme, objektorientierter Inferenzmotor, Hypertexterzeuger usw.). In Anbetracht seiner Komplexität und dem Fehlen einer echten Autorenumgebung (deren Entwicklung zu kostspielig gewesen wäre) bleibt ETOILE freilich den Teams fortgeschrittener Programmierer vorbehalten.
* Schneider, D., Borcic, B., Dillenbourg, P., Hilaro, M. & Mendelsohn, P. (1993): An experimental toolbox for advanced interactive learning environments. In Remo Bless (Ed), NRP23: Symposium on Artificial Intelligence and Robotics, October 23, Technopark Zürich.
- Prof. Rolf Pfeiffer von der Universität Zürich hat das Projekt "Portable-AI-Lab", unterstützt durch das NFP 23 "Künstliche Intelligenz und Robotertechnik", koordiniert (an dem Projekt teilgenommen haben auch das IDSIA in Lugano und B. Faltings in Lausanne). Mit dieser auf mehreren Plattformen (Mac, Windows und Unix) entwickelten Umgebung können die wichtigsten Paradigmen der künstlichen Intelligenz anhand leistungsstarker Simulationsinstrumente und kommentierter Modelle unterrichtet werden.
* Rosner, M., Baj, F. & Cattaneo, P. (1993): Communication Between Modules In The Portable AI Lab. In Remo Bless (Ed), NRP23 - Symposium on Artificial Intelligence and Robotics, October 23, Technopark Zürich.
* Rosner, M. & Cattaneo, P. (1994): Reflections On The Portable AI Lab. In Remo Bless (Ed), 2nd NRP23: Symposium on Artificial Intelligence and Robotics. (September 29, 1994, EPFL - Ecublens).
- Zum Schluss dieser Aufzählung erwähnen wir hier zur Erinnerung die Existenz einer grossen Zahl von Entwicklerteams, die von den kantonalen Zentren für pädagogische Forschung oder den Sonderabteilungen der kantonalen Erziehungsdepartemente (wie dem CIP in Genf) unterstützt werden. Diese Teams haben in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Unterrichtsprogramme, Simulationen oder Hypertexte mit pädagogischer Zielrichtung geschaffen, die in den Schulen aller Kantone verteilt werden. Obwohl sie nicht Gegenstand besonderer Forschungen sind, erscheinen gewisse dieser Programme (z.B. das am Genfer CIP entwickelte NEURODULE) jetzt in den offiziellen Katalogen grosser Handelsmarken. Dies bezeugt die grosse Vitalität dieser Zentren und den gewissermassen professionellen Ansatz ihrer Entwickler.
Zweifelsohne zählt dieses Forschungsthema die grösste Zahl an Teams, die an konkreten Projekten arbeiten, aber zugleich sind die Forscher der Erziehungswissenschaften hier am wenigsten präsent. Diese Feststellung bestätigt den Graben, der zwischen den Entwicklern von Umgebungen und den potentiellen Anwendern dieser Anlagen herrscht, die deren Auswirkungen in einer realen Situation untersuchen wollen. Einer der Nachteile dieser Situation ist, dass die Entwicklerforscher parallele Wissenschaftskreise aufbauen, die zuweilen Fragestellungen der Bildung "neu erfinden", ohne die Geschichte der Disziplin zu berücksichtigen. Dies ist z.B. der Fall bei der Bildungs-Arbeitsgruppe TC3 des IFIP (International Federation for Information Processing). Um dies zu verbessern, wäre es wünschenswert, dass sich die Pädagogen und Entwickler örtlich treffen (dort, wo eine genügende kritische Masse von Forschern vorhanden ist), um gemeinsam an Evaluationsprojekten in realer Unterrichtssituation zu arbeiten.
[35] HIPOCAMPE ist das Akronym von "Hypertexte Intelligent et Parcours Orienté: Construction Automatique et Maillage Pour l'Enseignement assisté par ordinateur".
[36] Labor für computergestützten Unterricht (der ETHL). Anm. d. Übers.
PNR33 - NFP33 - 9 NOV 1996

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